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Mord im ICE

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„Und wenn du doch noch einen Tag länger bleibst?“, murmelte Magnus und berührte mit den Lippen Hannes Ohr. Er hielt sie fest im Arm, und es schien, als wolle er sie gar nicht mehr loslassen. Obwohl der ICE in Richtung Süden direkt neben ihnen am Bahnsteig wartete, alle Reisenden schon eingestiegen waren und die ersten Türen gerade zugingen.

„Ja“, seufzte Hanne leise und erlaubte sich, noch einen Augenblick in dieser Umarmung zu versinken. Dann trat sie entschlossen einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Nein, die Pflicht ruft.“ Sie küsste Magnus ein letztes Mal, ein Kuss, der nur noch flüchtig hingehaucht bei ihm ankam und schon fast unterwegs war. Hanne sprang leichtfüßig die Stufen hinauf in den Wagen, wo ihr Koffer bereits stand, hob noch einmal die Hand, und dann schloss sich auch schon die Tür, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Während der ICE aus dem Hamburger Hauptbahnhof herausrollte, blieb Hanne noch ein Weilchen bei den Türen stehen. So als sei sie noch nicht bereit, zu ihrem Platz zu gehen und die Rückreise in ihren normalen Alltag anzutreten. Ja, sie wäre gerne bei Magnus geblieben. Nicht nur einen Tag länger, sondern für immer. Nein, lieber doch nicht. Aber warum denn eigentlich nicht? Sie liebte Magnus, und er liebte sie – ein glücklicher Zustand, den man nicht hoch genug einschätzen konnte. „Nein“, sagte sie dann laut und energisch zu sich selber, und der Zugschaffner, der gerade vorbeieilte, warf ihr einen erstaunten Blick zu.

Sie wusste, Magnus war nicht geschaffen für das traute Glück am heimischen Herd. Vor zwanzig Jahren war er einmal verheiratet gewesen, aber die Ehe hatte nicht lange gehalten, weil seine Träume ihn ständig in die Ferne zogen. Das Reisen war sein Leben, und meist drehte er Filme an abgelegenen Orten, irgendwo in Grönland, Kolumbien oder in der australischen Wüste, Hunderte von Kilometern entfernt von dem Komfort, wie ihn Touristen schätzen.

Hanne nahm ihren Koffer und schlängelte sich durch den Gang zu ihrem Platz. An einem Vierertisch machte sie Halt, checkte kurz, ob die Reservierung stimmte, und setzte sich hin. Sie nahm ein Taschenbuch aus ihrem Rucksack, legte es vor sich auf den Tisch, schlug es aber nicht auf. Ihre Gedanken wanderten zurück zu den Tagen in Hamburg und Lübeck. Bilder wie wechselnde Blitzlichtaufnahmen tauchten in ihrem Kopf auf. Das Elefantenkind im Hamburger Zoo. Die Marzipantorte im Café Niederegger in Lübeck. Das Silvesterfeuerwerk am Holstentor. Der Marienaltar mit dem Einhorn im Lübecker Dom. Sie selber Hand in Hand mit Magnus auf der Uferpromenade in Travemünde…

Die Bilder verblassten, und Hanne begann, an das Wortcafé zu denken, an Lore und vor allem an deren letzte E-Mail. Was Lore da geschrieben hatte, fand Hanne nicht sehr überzeugend. Keine großen Events und Kochorgien mehr? Das hält sie nicht durch, dachte Hanne, nie im Leben. Am ersten Weihnachtsfeiertag hatte Lore noch für ihre Schwester, deren Kinder und einige betagte Verwandte gekocht. Nicht etwa etwas Einfaches, Schmackhaftes, sondern ausgerechnet dieses komplizierte Menü mit einem Sauerbraten, der tagelang von morgens bis abends gehätschelt werden musste, nur um irgendwann in wenigen Minuten über die Zungen der Gäste zu rollen und in deren Magen-Darm-Trakt zu verschwinden.

Oder hatte sich in Lores Einstellung tatsächlich etwas geändert? Sie wirkte in letzter Zeit stressempfindlicher, nachdenklicher und manchmal geradezu schwermütig. Lag es daran, dass Lore nun erheblich weniger Alkohol trank als früher? War ihre gute Laune immer nur vom Sekt gekommen? Es hatte Zeiten gegeben, da war in Lores Umgebung der Sekt in Strömen geflossen, ganz gleich, ob mit oder ohne Anlass. Und über Hanne, die wenig vertrug, hatte Lore immer herablassend gelacht. Doch anscheinend änderten sich die Zeiten.

Und im Übrigen war es mal wieder typisch für Lore, dass sie nun gleich ins andere Extrem fiel. Ein Schweige-Retreat, Achtsamkeit – Hanne konnte nur den Kopf schütteln. Dieser plötzliche Wechsel erinnerte sie an Lores Teenagerzeit. Auf eine wilde Ausgehphase, in der ihre Eltern jede Nacht gezittert hatten, wann ihre Tochter wohl heimkommen würde, war eine hausmütterliche Phase gefolgt, in der Lore Kochrezepte ausprobierte und ansonsten ihre Abende mit Stricknadeln klappernd vor dem Fernseher verbrachte.

Der Zug hielt, und Hanne schreckte aus ihren Gedanken. Was, schon Hannover? Zwei Minuten später plumpste eine prall gefüllte Damenhandtasche auf den Sitz neben ihr. Die Besitzerin, eine rundliche Dame um die sechzig mit roten Locken, verstaute ihr Rollköfferchen und ihren Mantel oben in der Gepäckablage und ließ sich auf ihrem Platz nieder. Eine weitere Minute später hatte sie zwei Wurstbrötchen, ein Plastikschälchen mit Pudding, einen Schokoriegel mit Überlänge und eine Flasche Cola Light aus ihrer Handtasche gezaubert. Sie nahm eines der Wurstbrötchen in beide Hände und biss herzhaft davon ab.

„Schönes Buch, das da“, sagte sie kauend und wies mit ihrem fettigen Zeigefinger auf Hannes Roman, der immer noch ungelesen auf dem Tisch lag. „Ich lese auch total gern, am liebsten Krimis. Diese Regionalkrimis, die finde ich richtig gut. Eifel-Krimis, Köln-Krimis, Frankfurt-Krimis, die kenne ich alle. Aber manchmal sind sie mir auch zu gruselig. Ich meine, wie so eine Leiche aussieht, das muss ich gar nicht so genau wissen. Wollen Sie auch ein paar Kekse? Hier bitte, reicht für uns beide. Was wollte ich sagen? Ach so, ja, diese Leichen. Stellen Sie sich vor, mein Schwiegersohn arbeitet in der Pathologie, und was der das täglich zu sehen bekommt… Ich verrat Ihnen mal was, ich wollte ja auch schon immer mal einen Krimi schreiben, Mord im ICE, haha, wie finden Sie das…“

Hanne war die ganze Zeit nicht dazu gekommen, auch nur ein Wort einzuwerfen. Plötzlich wallte Zorn in ihr auf. Diesen Mord hätte sie gerne begangen, am liebsten sofort! Sie unterbrach ihre Nachbarin mitten im Satz und sagte, während sie in Gedanken erst das Plappermaul mit Knödeln stopfte und anschließend mit einem scharfen Beil ausholte: „Meine Freundin hat die letzten Tage in einem Schweige-Retreat verbracht. Soll ich Ihnen mal die Adresse verraten?“

Danach herrschte Ruhe bis Kassel-Wilhelmshöhe.


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